Ich werde all zu oft gefragt, wie ein bestimmter Roman entstanden
ist und wie er sich unterwegs entwickelt hat. In der Regel weiß ich das nicht mehr genau und
murmle dann etwas, dass das wie mit Kindern sei: Sie werden geboren, wachsen auf und ziehen
aus, und man weiß danach gar nicht mehr, was in der Zwischenzeit passiert ist.
Aber dieses Mal, bei Blutfrost (Originaltitel: Hilsen fra Rexville), kann ich mich sogar ungewöhnlich gut daran
erinnern, und ich muss das also lieber aufschreiben, bevor ich es vergesse. Here
goes:
Bei der dänischen Krimimesse in Horsens im Jahre 2009
traf ich Dr. Steen Holger Hansen, einen der anerkanntesten Gerichtsmediziner
Dänemarks. Wie üblich traf sich die
ganze „Krimibande“ von Autoren nach einem üppigen Abendessen zum Trinken im legendären
Eydes Keller unmittelbar neben Hotel Jørgensen und stand dort dichtgedrängt zusammen. Hier zeigte sich, dass Steen Holger und ich ein
gemeinsames Interesse hatten: das Münchhausen-Stellvertretersyndrom,
wobei Mütter Krankheiten bei ihren Kindern erfinden oder ihnen diese sogar
selbst zufügen, um damit besonders bei Krankenhauspersonal Aufmerksamkeit zu
erlangen.
|
Mein Redakteur, Niels, ich und Steen Holger mit Blutfrost auf der Krimimesse |
Während ich in einem früheren Roman schon einmal das Münchhausen-Stellvertretersyndrom
miteinbezogen hatte, ist es in Blutfrost
Teil eines Katalogs von Morden, die von Frauen begangenen werden. Frauen, die an Münchhausen-Stellvertretersyndrom
leiden, sind meines Erachtens viel interessanter als Frauen, die aus Mitleid
oder Gier morden, weil es an sich naturwidrig erscheint, dass Frauen, die
Kinder gebären und betreuen, diesen bewusst Schaden zufügen sollten. Aber es ist so: Und je unverständlicher ein Phänomen ist,
desto interessanter ist es.
Ich hörte sehr aufmerksam zu, als der gute Herr Gerichtsmediziner mit Anekdoten
aus einer die Phantasie in den Schatten stellenden Wirklichkeit unterhielt, die
eine Anekdote mehr erschütternd als die andere.
Leider konnte ich mich aber am darauffolgenden Tag wegen des erheblichen
Weinkonsums des Vorabends nicht an recht viele Anekdoten erinnern. Kann passieren.
|
Gerichtsmediziner Steen Holger Hansen. |
Im Spätsommer 2010 traf ich wieder Steen Holger, dieses Mal bei einer Release-Party anlässlich Anna Grues jüngsten
Romans über den glatzköpfigen Detektiv. (Die anderen Bücher in Annas Trilogie
sind Die guten Frauen von Christianssund
und Der Judaskuss.) Steen Holger war anwesend, weil seine Freundin,
die auch Rechtsmedizinerin ist, Anna mit forensischen Details für den neuen
Roman geholfen hatte. Hier setzten wir
unsere Unterhaltung über Münchhausen auf sozusagen überraschend hautnaher Art und
Weise fort: Steen Holger zeigte mir eine Narbe auf seinem linken Unterarm und
erzählte, dass er sich die Narbe mit Abflussreiniger selbst hinzugefügt habe. Der Hintergrund war ein Fall, der im
Frühjahr 2011 langsam aber sicher immer mehr Aufmerksamkeit in der Presse bekam:
|
Steen Holger Hansens Narbe nach einem halben Jahr |
Ein zweijähriges Mädchen war 2009
nach ihrem Mittagsschlaf mit Verätzungen auf ihrer ganzen Brust aufgewacht. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um
Ätzungen dritten Grades handelte, die wahrscheinlich von Abflussreiniger
verursacht worden waren. Die Mutter und
ihr Partner bestritten jedoch, etwas damit zu tun gehabt zu haben. Brandverletzungsexperten an der staatlichen
Universitätsklinik „Rigshospitalet“ in Kopenhagen meinten, dass die
Verletzungen bis zu acht Tage alt sein könnten.
Die Polizei fragte danach bei Steen Holger Hansen am
gerichtsmedizinischen Institut an der Universität Kopenhagen an, ob er auf
Grund seiner Erfahrung mit Ätzungen den Tatzeitpunkt besser einkreisen
könne. Sollte die Polizei mit einem
Zeitraum von acht Tagen arbeiten, wäre die Anzahl der potentiellen Täter nämlich
so groß, dass es fraglich wäre, ob der Staatsanwalt eine Anklage überhaupt erheben
könne. Steen Holger entdeckte, dass es in der medizinischen Literatur keine
Erfahrungen mit Langzeiteffekten von Ätzungsschäden gab, wahrscheinlich weil
Menschen, die mit ätzenden Substanzen in Berührung gewesen waren, die
Hautoberfläche sofort mit Wasser gespült hatten.
|
|
Signes Wundschorf während er noch schwarz-braun war |
Er führte deshalb Ätzungsversuche auf seiner
eigenen Haut durch. Seine Versuche
endeten damit, dass der Tatzeitpunkt auf die zwei Stunden eingekreist werden
konnte, in denen das Mädchen auf dem Balkon zu Mittag geschlafen hatte. Trotzdem wurden sowohl ihre Mutter als auch deren
Partner im Stadtgericht Roskilde freigesprochen, und das obwohl das Gericht
ausdrücklich feststellte, dass die Verletzungen von einem der beiden
Angeklagten zugefügt worden waren. Das
Problem war schlichthin, dass Dänemark keine Urteile aufgrund kollektiver
Schuld fällen kann. Man muss schlüssig
beweisen können, welche Einzelperson eine Untat, in diesem Falle die
Misshandlung des Mädchen, ausgeführt hat.
Das Groteske an der Sache ist ausserdem, dass das kleine Mädchen heute
bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater wohnt, weil beide gerichtlich
freigesprochen wurden.
Ist es nicht in einem Rechtsstaat
problematisch, dass hier die identifizierten Täter nicht nur straffrei
ausgegangen sind, sondern noch dazu das misshandelte Kind behalten konnten?
Zum Zeitpunkt von Annas Fest war
ein Berufungsverfahren am Landgericht eingeleitet worden. Es war eine höchst seltsame Geschichte. Ich konnte sie einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Man bleibt eben mental an Geschichten hängen,
die echt mystisch sind. Steen Holger und ich waren uns ursprünglich einig, dass
die Sache kein typisches Münchhausen-Bild zeichnete. Und trotzdem.
Das Mädchen musste viele komplizierte plastische Operationen durchstehen,
die jedes Mal langwierige Krankenhausaufenthalte und Nachbehandlungen
erforderten.
|
Signes Brust nach der dritten plastischen Operation |
Beim Münchhausen-Stellvertretersyndrom
handelt es sich wie gesagt um Aufmerksamkeitssucht, speziell Aufmerksamkeit von
Krankenhauspersonal, und das bekam die Mutter ja unter den häufigen und
postoperativ behandlungsintensiven Aufenthalten ihrer Tochter.
Es ist eine schreckliche und schrecklich spannende Sache. Auf diesem
Hintergrund alleine würde sie jedoch keinen spannenden Roman ergeben. Ich überlegte
mir deshalb, wie meine fiktive Rechtsmedizinerin Maria Krause, die sich selbst
so innerlich ein Kind gewünscht hatte, auf einen solchen Übergriff reagieren
würde. Ich fragte mich, welche
Möglichkeiten in ihrem persönlichen Hintergrund wären, die der Geschichte die
Form von Dynamik verleihen könnte, die ein spannender Roman fordert. Halt! Jetzt sollte ich wohl nicht mehr erzählen,
sonst könnte die Spannung verloren gehen...
Schluss, aus, vorbei.