Montag, 13. Januar 2014

Blutfrost: Die Vorgeschichte



Ich werde all zu oft gefragt, wie ein bestimmter Roman entstanden ist und wie er sich unterwegs entwickelt hat.  In der Regel weiß ich das nicht mehr genau und murmle dann etwas, dass das wie mit Kindern sei:  Sie werden geboren, wachsen auf und ziehen aus, und man weiß danach gar nicht mehr, was in der Zwischenzeit passiert ist. Aber dieses Mal, bei Blutfrost (Originaltitel: Hilsen fra Rexville), kann ich mich sogar ungewöhnlich gut daran erinnern, und ich muss das also lieber aufschreiben, bevor ich es vergesse.  Here goes:
Bei der dänischen Krimimesse in Horsens im Jahre 2009 traf ich Dr. Steen Holger Hansen, einen der anerkanntesten Gerichtsmediziner Dänemarks.  Wie üblich traf sich die ganze „Krimibande“ von Autoren nach einem üppigen Abendessen zum Trinken im legendären Eydes Keller unmittelbar neben Hotel Jørgensen und stand dort dichtgedrängt zusammen.  Hier zeigte sich, dass Steen Holger und ich ein gemeinsames Interesse hatten: das Münchhausen-Stellvertretersyndrom, wobei Mütter Krankheiten bei ihren Kindern erfinden oder ihnen diese sogar selbst zufügen, um damit besonders bei Krankenhauspersonal Aufmerksamkeit zu erlangen.



Mein Redakteur, Niels, ich und Steen Holger mit Blutfrost auf der Krimimesse

Während ich in einem früheren Roman schon einmal das Münchhausen-Stellvertretersyndrom miteinbezogen hatte, ist es in Blutfrost Teil eines Katalogs von Morden, die von Frauen begangenen werden.  Frauen, die an Münchhausen-Stellvertretersyndrom leiden, sind meines Erachtens viel interessanter als Frauen, die aus Mitleid oder Gier morden, weil es an sich naturwidrig erscheint, dass Frauen, die Kinder gebären und betreuen, diesen bewusst Schaden zufügen sollten.  Aber es ist so:  Und je unverständlicher ein Phänomen ist, desto interessanter ist es.

Ich hörte sehr aufmerksam zu, als der gute Herr Gerichtsmediziner mit Anekdoten aus einer die Phantasie in den Schatten stellenden Wirklichkeit unterhielt, die eine Anekdote mehr erschütternd als die andere.  Leider konnte ich mich aber am darauffolgenden Tag wegen des erheblichen Weinkonsums des Vorabends nicht an recht viele Anekdoten erinnern.  Kann passieren.


 

Gerichtsmediziner Steen Holger Hansen.


Im Spätsommer 2010 traf ich wieder Steen Holger, dieses Mal bei einer Release-Party anlässlich Anna Grues jüngsten Romans über den glatzköpfigen Detektiv. (Die anderen Bücher in Annas Trilogie sind Die guten Frauen von Christianssund und Der Judaskuss.)  Steen Holger war anwesend, weil seine Freundin, die auch Rechtsmedizinerin ist, Anna mit forensischen Details für den neuen Roman geholfen hatte.  Hier setzten wir unsere Unterhaltung über Münchhausen auf sozusagen überraschend hautnaher Art und Weise fort: Steen Holger zeigte mir eine Narbe auf seinem linken Unterarm und erzählte, dass er sich die Narbe mit Abflussreiniger selbst hinzugefügt habe.   Der Hintergrund war ein Fall, der im Frühjahr 2011 langsam aber sicher immer mehr Aufmerksamkeit in der Presse bekam:

Steen Holger Hansens Narbe nach einem halben Jahr



Ein zweijähriges Mädchen war 2009 nach ihrem Mittagsschlaf mit Verätzungen auf ihrer ganzen Brust aufgewacht.  Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um Ätzungen dritten Grades handelte, die wahrscheinlich von Abflussreiniger verursacht worden waren.   Die Mutter und ihr Partner bestritten jedoch, etwas damit zu tun gehabt zu haben.  Brandverletzungsexperten an der staatlichen Universitätsklinik „Rigshospitalet“ in Kopenhagen meinten, dass die Verletzungen bis zu acht Tage alt sein könnten.  Die Polizei fragte danach bei Steen Holger Hansen am gerichtsmedizinischen Institut an der Universität Kopenhagen an, ob er auf Grund seiner Erfahrung mit Ätzungen den Tatzeitpunkt besser einkreisen könne.  Sollte die Polizei mit einem Zeitraum von acht Tagen arbeiten, wäre die Anzahl der potentiellen Täter nämlich so groß, dass es fraglich wäre, ob der Staatsanwalt eine Anklage überhaupt erheben könne. Steen Holger entdeckte, dass es in der medizinischen Literatur keine Erfahrungen mit Langzeiteffekten von Ätzungsschäden gab, wahrscheinlich weil Menschen, die mit ätzenden Substanzen in Berührung gewesen waren, die Hautoberfläche sofort mit Wasser gespült hatten.




Signes Wundschorf während er noch schwarz-braun war


Er führte deshalb Ätzungsversuche auf seiner eigenen Haut durch.  Seine Versuche endeten damit, dass der Tatzeitpunkt auf die zwei Stunden eingekreist werden konnte, in denen das Mädchen auf dem Balkon zu Mittag geschlafen hatte.  Trotzdem wurden sowohl ihre Mutter als auch deren Partner im Stadtgericht Roskilde freigesprochen, und das obwohl das Gericht ausdrücklich feststellte, dass die Verletzungen von einem der beiden Angeklagten zugefügt worden waren.  Das Problem war schlichthin, dass Dänemark keine Urteile aufgrund kollektiver Schuld fällen kann.  Man muss schlüssig beweisen können, welche Einzelperson eine Untat, in diesem Falle die Misshandlung des Mädchen, ausgeführt hat.  Das Groteske an der Sache ist ausserdem, dass das kleine Mädchen heute bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater wohnt, weil beide gerichtlich freigesprochen wurden.
Ist es nicht in einem Rechtsstaat problematisch, dass hier die identifizierten Täter nicht nur straffrei ausgegangen sind, sondern noch dazu das misshandelte Kind behalten konnten?


Zum Zeitpunkt von Annas Fest war ein Berufungsverfahren am Landgericht eingeleitet worden.  Es war eine höchst seltsame Geschichte.  Ich konnte sie einfach nicht aus dem Kopf schlagen.  Man bleibt eben mental an Geschichten hängen, die echt mystisch sind. Steen Holger und ich waren uns ursprünglich einig, dass die Sache kein typisches Münchhausen-Bild zeichnete.  Und trotzdem.  Das Mädchen musste viele komplizierte plastische Operationen durchstehen, die jedes Mal langwierige Krankenhausaufenthalte und Nachbehandlungen erforderten.  


Signes Brust nach der dritten plastischen Operation

Beim Münchhausen-Stellvertretersyndrom handelt es sich wie gesagt um Aufmerksamkeitssucht, speziell Aufmerksamkeit von Krankenhauspersonal, und das bekam die Mutter ja unter den häufigen und postoperativ behandlungsintensiven Aufenthalten ihrer Tochter.

Es ist eine schreckliche und schrecklich spannende Sache.  Auf diesem Hintergrund alleine würde sie jedoch keinen spannenden Roman ergeben. Ich überlegte mir deshalb, wie meine fiktive Rechtsmedizinerin Maria Krause, die sich selbst so innerlich ein Kind gewünscht hatte, auf einen solchen Übergriff reagieren würde.  Ich fragte mich, welche Möglichkeiten in ihrem persönlichen Hintergrund wären, die der Geschichte die Form von Dynamik verleihen könnte, die ein spannender Roman fordert. Halt!  Jetzt sollte ich wohl nicht mehr erzählen, sonst könnte die Spannung verloren gehen...  Schluss, aus, vorbei.



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